M. Berg u.a. (Hrsg.): Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft

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Title
Briefkultur(en) in der deutschen Geschichtswissenschaft zwischen dem 19. und 21. Jahrhundert.


Editor(s)
Berg, Matthias; Neuhaus, Helmut
Series
Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (106)
Published
Göttingen 2020: Vandenhoeck & Ruprecht
Extent
398 S., 15 SW-Abb.
Price
€ 60,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Detlev Schöttker, Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin

Bis in die 1990er-Jahre waren Briefe fast ausschließlich Gegenstand literaturwissenschaftlicher Forschung. Publikationen konzentrierten sich auf Korrespondenzen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Überlegungen zur Gattung und Gattungsgeschichte waren eher die Ausnahme.1 In der sich etablierenden, stark poststrukturalistisch orientierten Medienwissenschaft wurden Briefe – im Sinne von Friedrich Kittlers Buch Aufschreibesysteme 1800/1900 (1985) – in erster Linie als Medien der Speicherung und Vermittlung von Emotionen analysiert, nicht aber als besondere Form privater und öffentlicher Kommunikation.2

Ausnahmen waren ein Band von 1996 mit Beiträgen zur Kulturgeschichte des Briefs, in dem die Post eine zentrale Rolle spielte, und ein Ausstellungskatalog des Freien Deutschen Hochstifts von 2008 zum Brief als Papierobjekt im Werk von Schriftstellern und Künstlern.3 Inzwischen liegt ein umfangreiches Handbuch vor, in dem Ergebnisse und Perspektiven der Briefforschung fächerübergreifend dargestellt werden.4 Nachdem Dieter Henrich in seiner umfangreichen Studie Grundlegung aus dem Ich (2004) gezeigt hat, dass Korrespondenzen für die Entstehung des deutschen Idealismus eine zentrale Rolle gespielt haben, hat sich auch die Philosophiegeschichtsschreibung mit Briefen beschäftigt und Henrichs Begriff der Konstellation verwendet. Er spielt im vorliegenden Band allerdings keine Rolle, obwohl er ein theoretisches Fundament für die Darstellung und Deutung von Korrespondenzen liefert.5

In dem von Matthias Berg und Helmut Neuhaus herausgegebenen Sammelband wird erstmals gezeigt, dass Briefe von Historikern für die Herausbildung und Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert eine zentrale Bedeutung hatten. Der Historismus und seine bekannten Vertreter (Ranke, Mommsen, Droysen u.a.) stehen im Mittelpunkt des Bandes, da die Korrespondenzen in Archiven und Editionen verfügbar sind. Nur wenige Beiträge nehmen die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Blick. Die zweite Jahrhunderthälfte oder gar die Gegenwart werden bis auf noch laufende Editionen älterer Briefwechsel weitgehend ausgeblendet, wie in der Einleitung des Bandes selbst betont wird: „Es ist den Herausgebern trotz verschiedener Bemühungen nicht gelungen, einen entsprechenden Beitrag zur bundesrepublikanischen Geschichtsschreibung seit der Mitte der 1970er Jahre einzuwerben.“ (S. 13)

Die historische Begrenzung der Beiträge vornehmlich auf das 19. und frühe 20. Jahrhundert ist jedoch nicht das einzige Defizit des Bandes, der aus einer Tagung in München vom Februar 2019 hervorgegangen ist.6 Ein Mangel liegt besonders in der Gliederung, denn die fünf Rubriken sind so allgemein gehalten, dass hier Grundfragen disziplinärer Briefforschung nicht zum Ausdruck gebracht werden; die Überschriften lauten: I. Grundlagen historiographischer Briefkultur(en), II. Formen und Varianten: Historiographische Briefkultur(en) seit dem 19. Jahrhundert, III. Krisen und Grenzen: Historiographische Briefkultur(en) im Zeitalter der Extreme, IV. Herausforderungen und Chancen: Historiographische Briefkultur(en) in Briefeditionen.

„Grundlagen“ werden im I. Teil nur in einem Beitrag von Michael Maurer behandelt. Er gibt einen guten Überblick zu Briefen, Tagebüchern und Autobiographien als „Selbstzeugnisse in kulturhistorischer Perspektive“, geht allerdings nicht über die persönliche Dimension von Korrespondenzen hinaus und liefert damit keine Grundlage für die Leitfrage des vorliegenden Bandes. Sinnvoll wäre es gewesen, an dieser Stelle auch den Beitrag von Hans-Christof Kraus über „Historikerbriefe“ in den „Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts“ zu bringen, der dem letzten Teil zugeordnet ist, da der Verfasser die Problematik von Briefeditionen in den 1920er-Jahren behandelt: „Willkürlich vorgenommene, oft ungekennzeichnete Auslassungen, inhaltliche Manipulationen“ sowie „fehlerhafte Datierungen und falsche Zuordnungen“ seien „hier keineswegs selten zu finden“ (S. 323f.).

Außerdem hätte man in der Rubrik „Grundlagen“ gern einen Beitrag darüber gelesen, wer Briefe von Historikern seit dem 19. Jahrhundert gesammelt und für die Nachwelt überliefert hat. Dass das Deutsche Literaturarchiv in Marbach seit zehn Jahren nicht nur die Nachlässe von Schriftstellern und Literaturhistorikern, sondern auch von Historikern wie Reinhart Koselleck sammelt, wäre einen Hinweis wert.7 Es handelt sich hier um eine Grundfrage der Erforschung von Briefkulturen, nämlich die, ob es bei Historikern ebenso wie bei Schriftstellern ein Nachlass- und Nachweltbewusstsein gibt – nicht nur auf Archive insgesamt bezogen, sondern auch auf die Person und das Werk des Historikers.8 Dies ist ohne Zweifel anzunehmen, da die Grenzen zwischen Literatur und Geschichtsschreibung seit jeher fließend waren, doch müssten entsprechende Äußerungen dokumentiert und erläutert werden.

Ein weiterer Mangel des Bandes ist, dass die Beiträge zu zentralen Bereichen und Funktionen von Historiker-Briefen nicht in einer Rubrik gebündelt werden (z.B. mit der Überschrift „Organisationsfragen des Faches“), sondern im Band verstreut sind. Das betrifft die Aufsätze zur „Wissenschaftspolitik in Briefen. Althoff, Mommsen und Harnack“ (Stefan Rebenich), zu „Historikertage[n] und Historikerverband um 1900“ (Matthias Berg), zu Periodika wie den „Preußischen Jahrbüchern“ (Jonas Klein) und zur „Briefkultur im historischen Herrschaftsdiskurs der DDR“ (Martin Sabrow). Andere Beiträge sind nur auf Personen bezogen, ohne dass übergreifende Fragen der Briefkultur behandelt werden, darunter Benjamin Hasselhorn über „Die Briefe Johannes Hallers, emotionsgeschichtlich gelesen“, Philip Rosin über „Hermann Onckens Korrespondenz zwischen Weimarer Republik und Nationalsozialismus“ sowie Marion Kreis’ Bericht über „Karl Hegels editorische Praxis im Spiegel seiner Korrespondenz seit den 1850er Jahren“, in dem es um die Edition der „Chroniken der deutschen Städte“ geht.

Nicht alle Beiträge behandeln die Geschichtswissenschaft und deren Vertreter, sondern auch angrenzende Disziplinen, ohne dass diese Ausweitung genauer erläutert oder unter einer Rubrik gebündelt wird. Die Verfasser der entsprechenden Beiträge haben sich mit den hier behandelten Autoren bereits in anderen briefbezogenen Publikationen wie Editionen, Biographien oder Monographien beschäftigt. Gangolf Hübinger geht in seinem Beitrag „Briefkultur(en) im bürgerlichen Zeitalter“ auf Max Weber ein. Hans-Harald Müller behandelt „Gelehrtenbriefe und Korrespondenzformen in der Germanistik des 19. Jahrhunderts“. Nicolas Berg beschäftigt sich in seinem Beitrag „Deutsch-jüdische Historikerbriefwechsel nach 1945“ in erster Linie mit Schriftstellern sowie mit Gustav Mayer und Friedrich Meinecke. Roman Göbel berichtet über die Online-Briefedition des Evolutionsbiologen Ernst Haeckel. Thomas Kroll und Friedrich Lenger behandeln die Briefe von Werner Sombart sowie Robert Michels, in denen es um Sozialwissenschaft und Politik geht. Hier heißt es zu Sombarts Briefen: „Sie können streng genommen zur Frage einer disziplinären Briefkultur der deutschen Geschichtswissenschaft nichts beitragen, da Sombart als Nationalökonom und Soziologe ihr nicht angehörte und zudem aufgrund seiner Versuche, Theorie und Geschichte zusammenzubringen, vielen Fachhistorikern suspekt war.“ (S. 127) Gerade diese Spannungen innerhalb der historisch arbeitenden Sozialwissenschaften und ihre Spiegelung in Briefen hätten aber eine genauere Betrachtung verdient.

Eine Grundfrage der wissenschaftsbezogenen Briefkultur wie die Zusammenarbeit und Gegnerschaft von Vertretern einer Disziplin wird in einigen Beiträgen durchaus behandelt, doch werden vorliegende Forschungsansätze hier nicht fruchtbar gemacht. Dazu gehört neben der erwähnten Konstellationsforschung zum Beispiel die Erforschung von Netzwerken, auf die Geneviève Warland in ihrem Beitrag über belgische Historiker und deren Verbindungen nach Deutschland eingeht. Ebenso interessant ist die Rolle von „ersten Briefen“ für die Anbahnung von Kontakten zwischen Vertretern einer Disziplin, auf die sich Nicolas Berg im Rahmen seines Beitrags über die Briefwechsel deutsch-jüdischer Autoren und Historiker bezieht.

Ohne Zweifel liefern die 18 Aufsätze des Bandes für sich genommen wichtige Beiträge zu den brieflichen Aktivitäten von Historikern und historiographisch orientierten Autoren. Doch bleiben sie isoliert, da generelle Fragen der Briefkultur und ihrer Erforschung meist nur am Rande eine Rolle spielen und von den Herausgebern in der Einführung und der Zuordnung nicht deutlich genug akzentuiert werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Reinhard M.G. Niekisch, Brief, Stuttgart 1991.
2 Vgl. Bernhard Siegert, Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der Post 1751–1913, Berlin 1993; Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999.
3 Vgl. Klaus Beyrer / Hans Christian Täubrich (Hrsg.), Der Brief. Eine Kulturgeschichte der schriftlichen Kommunikation, Heidelberg 1996; Anne Bohnenkamp / Waltraud Wiethölter (Hrsg.), Der Brief – Ereignis und Objekt, Frankfurt am Main 2008.
4 Vgl. Marie Isabel Matthews-Schlinzig u.a. (Hrsg.), Handbuch Brief. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, 2 Bde., Berlin 2020.
5 Vgl. Martin Mulsow / Marcelo Stamm (Hrsg.), Konstellationsforschung, Frankfurt am Main 2005. Der Band enthält auch einen Beitrag von Henrich über „Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie“ (S. 15–30).
6 Siehe auch den Bericht von Markus Gerstmeier, in: H-Soz-Kult, 31.05.2019, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8298 (18.10.2021).
7 Vgl. Jan Eike Dunkhase, Provinz der Moderne. Marbachs Weg zum deutschen Literaturarchiv, Stuttgart 2021.
8 Vgl. Detlev Schöttker, Posthume Präsenz: Zur Ideengeschichte des literarischen Archivs, in: Marcel Lepper / Ulrich Raulff (Hrsg.), Handbuch Archiv. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, Stuttgart 2016, S. 237–246; Kai Sina / Carlos Spoerhase (Hrsg.), Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000, Göttingen 2017.

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